Dieser Text erschien ursprünglich unter dem Titel ‚Agathodaimon. The Formula of Sublimation in Theory and Practice‘ von William Stoltz in: Ogdoadic Journal Vol. 1 Issue 1 auf der Homepage des Astrum Sophiae. Das englische Original findet sich hier. Übersetzung durch: Citadel of Pharos.

 

Agathodaimon. Die Formel der Sublimation in Theorie und Praxis

von William Stoltz

 

Wer oder was ist der Agathodaimon? Die wörtliche Übersetzung von Agatho-Daimon, welche dem griechischen entlehnt ist, lautet: guter oder wohlmeinender Geist. Daraus können wir vermuten, dass er eine wohlwollende, transzendente Präsenz mit besonderer Relevanz für die conditio humana ist. Innerhalb der ogdoadischen Tradition konzentrieren wir uns auf die zwillingshafte ophiomorphe (schlangenartige) und die anthropomorphe (menschliche) Form des Agathodaimon. (Andere Formen wie der kabbalistische Adam Kadmon und der keltische Cernunnos haben historische und esoterische Bedeutung, fallen aber aus dem Rahmen unserer gegenwärtigen Betrachtung. Obwohl dies beiden grundlegenden Formen koexistieren und in gewisser Weise untrennbar sind, haben sie zugleich wichtige und tiefgründige Unterschiede in unserer Arbeit inne. Diese tieferen Realitäten werden durch die Lehren der Tradition, grundlegende Praktiken und vielleicht am Wichtigsten, durch die Stufen der Initiation vermittelt. Sogar im Ritus der Induktion in der ersten Halle (First Hall Rite of Induction), wo das Sternbild der Verehrten (Constellation of the Worshipped) nicht offen erwähnt wird, übertragen die Amtsträger (Officers) in der letzten Segnung eine Verkündigung der Ankunft des Agathodaimon: „Somit möge die Vision des göttlichen Lichts in ihrer/seiner Seele aufsteigen und deine Präsenz sie/ihn umhüllen“ [1]. In der Schrift über das Sternbild der Verehrten lesen wir über den Agathodaimon: „AGATHODAIMON“ ist die transformierende Vision des göttlichen Lichts, welche in der Seele aufsteigt; und er ist der heilige Wächter des Kosmos, das spirituelle Bewusstsein des Logos, welcher den manifesten Welten immanent ist.“ [2]

Wir können annehmen, dass der Agathodaimon, wie er durch den Magus des Ritus repräsentiert wird, eine Hauptfigur ist, welche den inneren Arbeiten des Initiationsprozesses zugrunde liegt. Während wir in der Initiationssequenz voranschreiten, finden wir, im Kern der zweiten Halle, expliziter die Funktionen der geflügelten Schlange Knouphis. Wie man vielleicht bereits vermuten könnte, spielt in dieser Stufe des Initiationsprozesses der ophiomorphe Agathodaimon die Hauptrolle bei der Initiation und Integration.

Allerdings geschieht es erst im Ritus der Erhöhung (Elevation) der Dritten Halle, dass die anfängliche Verkündigung in Bezug auf die Mysterien des Agathodaimon vollständig in der Psyche des Kandidaten verwirklicht wird. Hier, in seiner vollen Kraft und seiner Symbolik, finden wir, der Ritus der Erhöhung der Dritten Halle primär um das Prinzip des anthropomorphen Agathodaimon herum organisiert ist.

Eine Unterscheidung zwischen der ophiomorphen und der anthropomorphen Form des Agathodaimon findet sich im Dokument über das Sternbild der Verehrten des Aurum Solis. Darin erfahren wir, dass die Natur des Knouphis Agathodaimon sich in einer bedeutsamen Hinsicht aus einem Herabsteigenden Impuls der göttlichen Kraft heraus manifestiert. Dennoch ist die persönliche Erfahrung und die dynamische Kraft der göttlichen Schlangenkraft, wie bei der hinduistischen Kundalini, ein aufwärts gerichteter Impuls innerhalb der Psyche und des Nervensystems. Oberflächlich betrachtet scheint dies ein Widerspruch zwischen kosmischer Theory und persönlicher Erfahrung zu sein, aber tatsächlich enthüllt dies eine wichtige magische Dynamik: Der abwärts gerichtete Impuls der göttlichen kosmischen Energie erweckt das Aufsteigen des latenten Schlangenfeuers in uns. Unser inneres Feuer erwacht gemäß unserer Fähigkeit die göttliche Präsenz anzurufen und angemessen zu kanalisieren; und in dieser Hinsicht ist die geflügelte Schlange ein passendes Emblem für diese transformative, kreative und transzendente Kraft des „Rufes zum Leben“ des menschlichen Geistes.

Knouphis Agathodaimon ist somit die Methode und das Mittel , um den Prozess der Transformation und Regeneration zu erwecken.
Diese dynamische Kraft stimuliert häufig die Libido des Praktizierenden und verstärkt die ursprünglichen Instinkte (inklusive des Sexualtriebs) proportional zur Intensität der spirituellen Arbeit. Obwohl dies dem Magier oder Tantriker, der bewusst mit diesen Prozessen arbeitet, wenig Konflikte bereitet, war dies ein seit langem bestehendes Problem für Individuen, Seminare und Klöster, wo Verdrängung die geläufige und für gewöhnlich nicht erfolgreiche Lösung für diese s Phänomen darstellte.

In dieser Hinsicht können wir eine enge Beziehung zum kabbalistischen Pfad Ayin und seiner Tarot-Attribution der Pan ähnlichen Figur des Teufels sehen. Diese Figur ist synonym mit dem griechischen Gott Pan oder dem keltischen Cernunnos, und sie repräsentiert als solche die rohe kreative oder generative Energie des Kosmos und des Individuums. Wenn wir diese Korrespondenzen tiefer ergründen, finden wir heraus, dass der hebräische Buchstabe Ayin im Sepher Yetzirah als die erneuernde oder regenerative Intelligenz bezeichnet wird: ein Prinzip, um das sich der Kern dieser Diskussion dreht. Zusätzlich finden wir den Teufel des Tarot verbunden mit der regenerativen Intelligenz und gepaart mit der großen alchemistischen Formel des „Solve et Coagula“ (lösen und binden: erneuern). Da der Pfad des Teufels Hod (die Sephirah von Merkur und dem Verstand) mit Tiphareth (der Sephirah des solaren Bewusstseins, der Schönheit und der Adeptschaft) verbindet, können wir erkennen, wie die Aussage von Paul Foster Case hier so anwendbar erscheint:

„Von allen Schlüsseln des Tarot ist Schlüssel 15 der wichtigste. Er ist der symbolische Schleier für das erste praktische Geheimnis des okkultismus. Er verbirgt und enthüllt zugleich die geheimen Kräfte die traditionell Moses, David und Salomon zugeschrieben werden. Dies ist das selbe Geheimnis, welches Pythagoras in den ägyptischen Tempelschulen lernte. Es ist das große Arkanum der Alchemie und der Magie. Es zu kennen heißt in der Lage sein, den Stein der Weisen zu erschaffen und das Elixier des Lebens. Jedoch können diejenigen, die es wissen, es nicht preisgeben. Denn den essenziellen Punkt daran zum Ausdruck zu bringen liegt jenseits der Macht der Worte.“

Weiterhin wurden die meisten Gestaltungen der Karte „der Teufel“ von Eliphas Levi’s archetypischer Gestalt des Baphomet beeinflusst, von dem angenommen wird, dass es das Idol der Tempelritter war. Baphomet wird von Levi als der „Bock von Mendez“ beschrieben, der niemand anderes als der ägyptische Gott Khnoum sein könnte, der Herr der Alchemie, welcher in der Symbolik und Dynamik des Ritus der Palingenesis enthüllt wird.

Dieses Mysterium wird angedeutet im Sternbild der Verehrten als eine Präsenz (Agathodaimon), „welche von den gnostischen Traditionen aus einer früheren ägyptischen Gestaltung entlehnt wurde.“ In der antiken Form des Khnoum, des Mendez-Bocks, wird er dargestellt als umarmt von der geflügelten Schlange, Knouphis, seinem Gegenpart. Diese symbolische Verschmelzung von Archetypen zeigt eine robuste Dynamik, die welche ebenfalls im orphischen Phanes, mithräischen Aeon und keltischen Cernunnos auftaucht. Alle diese Archetypen bestätigen als tipharetische Vermittler eine machtvolle Verbindung zum universellen Arkanum und transformieren die höheren und niederen Kräfte durch die alchemistische Macht des Lapis Philosophorum (Steins der Weisen).

Der anthropomorphe Agathodaimon zeigt uns eine etwas andere Formel: die Vollendung und der Ausdruck des großen Werkes. Die ophiomorphe Form verdeutlicht den Kontakt mit dem Licht und das darauf folgende Herabfließen der spirituellen Kräfte sowie ihre Antwort in Form eines aufsteigenden Energieflusses. Im Kontrast dazu repräsentiert die anthropomorphe Form die Vereinigung der irdischen und himmlischen Kräfte, primär durch die die tipharetische (briatische) Verbindung, geradeso wie Tiphareth als göttlicher Vermittler zwischen den höheren und niederen Ebenen dient. Seine Wirkungen sind durch seine alchemistische Funktion nicht nur verewigend und vergöttlichend, sondern zeigen den solaren Priester oder Adepten, welcher der bewusste Agent dieser Prozesse ist: insofern ist er der große hermetische Adrogyn oder Geist Mercurius. Dies ist die göttliche Erscheinung im Irdischen und die Transzendenz des Irdischen im Göttlichen – die Kommunion mit dem eigenen Heiligen Engel (Holy Guardian Angel).

Zusammenfassung und Praxis

Im Verlauf der Geschichte haben gewisse archetypische und mythologische Figuren als lebendige Repräsentationen des Agathodaimon herausgeragt. Großartig unter diesen waren Osiris, Dionysos, Mithras, Hermes, Moses und Christus, um nur einige wenige zu nennen. Er ist immerhin der archetypische solare Priesterkönig und göttliche Held, welcher für die Geschichte der menschlichen Rasse so essenziell ist. Er ist der kosmische Christos, der Opferpriester und as ewige Opfer, welcher die Mysterien der Wiedergeburt und des ewigen Lebens zeigt. Er verkörpert die göttliche Natur, die sich in menschlicher Form inkarniert – eine lebendige und empfindsame Präsenz, willens unter der menschlichen Rasse zu wandeln im Dienste der Menschheit, welcher durch seine bloße Anwesenheit die Botschaft des spirituellen Triumphs überbringt. Der Agathodaimon ist somit die eigentliche Seele und der Geist dessen, was das Beste in uns ist, die Quelle von Güte, Schönheit und Wahrheit, und in einem sehr realen Sinne der Vater der Mysterien.

Obwohl er gewöhnlich als männlich dargestellt wird, ist der Agathodaimon in einem wichtigen Sinne androgyn und transzendiert Männlichkeit oder Weiblichkeit. „Er“ ist das Dritte, welches aus der göttlichen Hochzeit des Männlichen und Weiblichen hervorgeht und ihre Dualität in einer Einheit transzendiert, die das EINE spiegelt, aus dem alles entspringt. Großartig unter seinen Mysterien als der große hermetische Androgyn ist seine alchemistische Macht, die niedere Materie in „Gold“ umzuwandeln und zu sublimieren. Die folgende Technik, „die Innere Technik der Sublimation“, verwendet grundlegende alchemistische Prinzipien und die tipharetische göttliche Kraft des Agathodaimon um ihr Ziel zu erreichen. Sie wurde aus dem Curriculum der Dritten Halle des Astrum Sophia abgeleitet als eine machtvolle Technik, die von Individuen jeden Grades angewendet werden kann, vorausgesetzt die Grundlagen des Rituals und die erforderlichen basalen Praktiken etabliert wurden.

Die Innere Technik der (Sublimation) Transformation

0. Vorbereitende Überlegungen:

a) Wähle nach gründlicher Überlegung einen Aspekt deinerselbst, den du nicht willst, als Feld der Sublimation. Dieses „Materium“ (z. B. Selbstsüchtigkeit, eine traumatische Erinnerung, Selbstzweifel etc.) sollte so prägnant wie möglich isoliert und identifiziert werden und einen Namen bekommen. Wenn du ihm eine spezifische Form geben kannst, umso besser.

b) Bestimme sowohl die ursächlichen wie die ausgleichenden sephirotischen Qualitäten deines Materiums. Zum Beispiel beinhaltet Schüchternheit einen Überschuss an Chesed und muss durch den Mut von Geburah ausgeglichen werden. Für eine traumatische Erinnerung, die auf den mondgleichen Qualitäten Yesods fußt, könnte man die Harmonie und Heilung der Sonne wählen.

c) Vergewissere dich, dass du die zweite Formel des Clavis Rei Primae gut geübt und die Fähigkeit gemeistert hast, die anthropomorphe Gottform des Agathodaimon anzunehmen und zu halten.

d) Du solltest in der Lage sein, diese Arbeit mit Freuden anzugehen – und mit Verstand.
Auf dem Bomos befinden sich die Lampe (östlich des Zentrums), ein Feuergefäß (Norden) und das Kamea der Sonne (Mitte). Du solltest auch ein Stück Papier haben, auf den du den Namen deines Materiums geschrieben hast.

2. Führe das Setting of the Wards Power durch, aber ziehe den Kreis widdershins anstatt deosil. Die Gottesnamen und die Archonten sollten dennoch in den üblichen Richtungen invoziert werden.

3. Stehe westlich des Bomos mit Blick nach Osten, nimm deine magische Persönlichkeit an und führe die zweite Formel des Clavis Rei Primae durch, bis dein Orbis Solis intensiv warm und strahlend ist.

4. Bring nun das Materium mit Namen, Gefühl und Form direkt in den Schmelzofen deines Orbis Solis und halte es dort fortwährend.

5. Nimm die Gottform des anthropomorphen Agathodaimon mit so viel Präsenz und Macht wie möglich an. Sobald diese etabliert ist, bringe den Strom des Lichts gleichzeitig von deinen Füßen aufwärts und von deiner Krone abwärts, um sie im Orbis Solis zu verschmelzen.

6. Werde dir des Materiums bewusst, wie es von der Herrlichkeit der solaren Strahlung umgeben wird. Virbiere ONOPHIS mehrmals, um die Intensität und Ausdehnung des Orbis Solis zu erhöhen.

7. Gestatte der Gottform zu verblassen aber halte die tipharetische Präsenz und bringe die ausgleichende sephirotische Qualität in den solaren Schmelztiegel deines Orbis Solis bis du intuitiv fühlst, dass das Materium in deiner Psyche ausgeglichen ist.

8. Lenke deine Aufmerksamkeit zurück zu deiner magischen Persönlichkeit. Entzünde das Stück Papier, auf welchem das sublimierte Materium geschrieben steht an der Lampe auf dem Bomos und wirf es anschließend in das Feuergefäß. Während du dies tust, sende dem Materium den hohen Segen des Lebens und Lichts.

9. Rezitiere die Hymnodia Krypte oder eine andere Anbetung.

10. Löse dich aus deiner magischen Persönlichkeit.
Batterie: 3 – 5 – 3

 

Literatur

Denning, Melita and Osborne Philips. Mysteria Magica. Woodbury, Minnesota: Llewellyn Publications, 2005.

Kaplan, Aryeh. Sefer Yetzirah, Revised Edition. York Beach, ME: Samuel Weiser, 1997.

Philips, Osborne. Aurum Solis, Initiation Ceremonies and Inner Magical Techniques.

Loughborough, Leicestershire: Thoth Publications, 2001.

Wang, Robert. The Qabalistic Tarot. York Beach, ME: Samuel Weiser, 1983.

Webster’s New Twentieth Century Dictionary- Second Edition. USA:Collins World, 1978.

Anmerkungen

[1]: Aurum Solis, Initiation Ceremonies and Magical Techniques, p. 69

[2]: Denning, Melita, Mysteria Magica, pp. 87-95

[3]: Ebd., Seite 92

[4]: Dies verweist auf den solaren ABRAXAS, dessen Form aus der Fusion von Schlangen und einem Hahn komponiert wurde, und der die Sonne und den Ruf zu Leben und Licht verkündet.

[5]: wie zitiert in: The Qabalistic Tarot, p. 173

[6]: Aurum Solis, Initiation Ceremonies and Magical Techniques, pp. 193 -194

[7]: Nebenbei bemerkt, wenn man die Symbolik und die Beziehung zwischen der Teufelskarte und den Liebenden untersucht, wird man sofort den Teufel als Reflektion oder Schleier der Liebenden erkennen.

[8]: Sublimieren bedeutet sublim machen, ein Materium zu erheben und zu reinigen, indem man es bis zur Gasförmigkeit erhitzt und dann den Dampf zurück in feste Form kondensiert: mit anderen Worten: Alchemie.

[9]: Ein früher Prototyp dieser Praxis, von Denning und Phillips, wurde 1974 in einer Ausgabe der Gnostica von Llewelyn Publications gedruckt, unter dem Titel: „Formula of the Black Goat“ (Formel der schwarzen Ziege). Es ist unwahrscheinlich, das viele, wenn überhaupt jemand, die Bedeutung hinter dem Arkanum der schwarzen Ziege begriffen hat: Schwarze Ziege = Baphomet = Khnoum: der Herr der Alchemie.

[10]: Die planetaren Kameas werden in Mysteria Magica beschrieben.

[11]: Dies ist der Version des Setting of the Wards, welche in The Magical Philosophy beschrieben wurde. Es wurde im Jahre 2000 durch den Großmeister des Aurum Solis geändert. Der Kreis widdershins wird wegen seiner einzigartigen Eigenschaften für dieses Ritual beibehalten.