des Hermes Trismegistos: Das Werk der Sonne

Die Smaragdtafel ist eine der profundesten aller Hermes Trismegistos zugeordneten Texte. Eine Legende besagt, dass der Text ursprünglich von Hermes selbst mit einem Diamanten auf ein großes Stück Smaragd graviert wurde. Dieses Artefakt wurde angeblich von Alexander dem Großen gefunden, aufgestellt auf einer Truhe des Hermes in einem ägyptischen Grab. Wenn wir jedoch etwas glaubwürdigere Quellen betrachten, gehören zu den frühesten Aufzeichnungen eine lateinische Übersetzung aus dem 11. Jahrhundert n. Chr. oder früher sowie eine arabische Version, die sich auf das achte Jahrhundert n. Chr. datieren lässt. Trotz seines geringen Umfanges (dieser Text umfasst aufgrund seiner Unterteilungen nur 12 kurze Aussagen) und seiner Überlieferung außerhalb des weithin akzeptierten Korpus der Trismegistischen Literatur, sind die Formeln, Axiome und Allegorien  der Smaragdtafel vollständig mit den alchemistischen und hermetischen Strömungen innerhalb der Ogdoadischen Tradition kompatibel.

Interessant ist auch, ob Zufall oder nicht, dass die ersten zehn Thesen des Textes die philosophischen Konzepte der zehn Sephiroth mit bermerkenswerter Ähnlichkeit widerspiegeln. Die verbleibenden zwei Thesen der Tafel scheinen

Amhitheatrum sapientae aeternae von Heinrich Khunrath (1606)

beschreibende Anmerkungen und Zusammenfassungen über den Autor und den Text darzustellen, jedoch keine natürliche Weiterentwicklung der Philosophie oder Ideen des Textes.

 

Wie andere Schriften dieser Art, kann die Interpretation auf verschiedenen Ebenen zugleich geschehen und ein unterschiedliches Set an Interpretationen beinhalten, je nachdem welches System verwendet wird. Mein eigener Kommentar, begleitend zu diesem Text wird sich daher auf Ideen hermetischen und kabbalistischen Denkens beschränken, unter Einbezug einiger passender Anmerkungen aus östlichen Systemen. Meine eigenen Beschränkungen, besonders in Bezug zu alchemistischer Symbolik und Analyse werden durch individuelle Meditation und Erforschung jeder einzelnen These der Tafel überwunden. Eigene Reflexion wird dabei helfen, die Tafel auch in der Psyche des Studierenden zum Leben zu erwecken, so wie es auch sein sollte.

1. Wahrhaftig gewiss und ohne Zweifel, was unten, ist gleich dem, was oben, und was oben, ist gleich dem, was unten ist, fähig,  die Wunder des Einen zu vollbringen.

Die Wendung „wahrhaftig gewiss und ohne Zweifel“ scheint zwei Ebenen der Wahrhaftigkeit zubehandeln. Während das Wort „gewiss“ eine unpersönliche Tatsachenbeschreibung zu sein scheint, scheint „ohne Zweifel“ den zweifelnden Geist des Individuums zu behandeln: das göttliche Wort, der Logos, der sich in der menschlichen Psyche ausdrückt.

Diese erste Aussage stellt damit auch das berühmte Axiom „Wie oben – so unten“ auf, welches seinerseits das Grundprinzip für das Gesetz der Entsprechungen darstellt, welches häufig in Magie und Meditation Anwendung findet; beispielsweise in Aleister Crowley’s Liber 777, oder in Herinrich Cornelius Agrippa’s Zusammenstellung von Entsprechungen. Ein kabbalistisches Äquivalent zu „wie oben – so unten“, ist das Sprichwort „Kether ist in Malkuth und Malkuth in Kether. Diese Aussage kennzeichnet eine essenzielle gegenseitige Bezogenheit der Polaritäten aufeinander im Prozess der Schöpfung. Diese Passage löst philosophisch auch den impliziten Dualismus, der zwischen den Ideen des Geistes und der Materie auftaucht. Orthodoxe gnostische, islamische und judeo-christliche religiöse Traditionen (die oft im frühen Zoroastrismus verwurzelt sind) haben einen Zeitvertreib daraus gemacht, Abgrenzungen von Gut gegen Böse, zwischen Gottheit und Menschheit, Erleuchtung und Sex, Licht und Dunkelheit, und sogar zwischen Mann und Frau fortzuschreiben.

Schließlich, impliziert „fähig, die Wunder des Einen zu vollbringen“, dass das Individuum eine angeborene Fähigkeit besitzt, die wundersame Vielfalt eines magischen Universums hervorzubringen. Dies stimmt überein mit der Idee, dass ein ausgebildeter Magier, der die archetypischen Qualitäten des Hermes ausübt, fähig ist, Vielfalt aus seiner oder ihrer essenziellen Einheit zu erschaffen. Diese Fähigkeit wird dargestellt durch die Geste des Magiers sowie der Symbole auf der Tarotkarte „der Magier“, welche auf die Kraft, die diversen archetypischen Ideen der Elemente zu manifestieren, hinweist: seine Haltung sowie das Arrangement der Gegenstände auf dem Altar (der kreative Prozesse, der auf das eigene Feld des Bewusstseins einwirkt). Außerdem bringt der Magier (Schlüssel 1) zusammen mit dem Narren (Schlüssel 0) die Schöpfungformel hervor: „Nichts – getan!“

2. Gerade so wie alle Dinger hervorgehen aus dem Einen durch Meditation über das Eine, so werden sie aus diesem einen Ding durch Anpassung geboren.